A
Achim
Bekanntes Mitglied
Hallo,
ich möchte einmal auf einen Artikel von Franz Mechsner und Victor Smetacek im SPON ( Spiegel Online )
aufmerksam machen, der mich total begeistern lässt.
Habe ich doch viele Jahre immer ähnliches vermutet, aber nie greifbar mittels Worte vermitteln können, jetzt bekommt eine jahrelange Idee ein Gesicht und das empfinde ich als phantastisch
Alle haben ihn, kaum jemand kennt ihn, doch ohne ihn würde der Mensch unbeholfen durch die Welt stolpern: der Körpersinn. Ist aus ihm vielleicht sogar das Selbst-Bewusstsein entstanden?
Ian Waterman geht schlurfend, breitbeinig, steif. Immer wieder bleibt er stehen, schaut an sich herunter, macht erneut ein paar Schritte, blickt abermals auf die Beine. Ginge jetzt das Licht aus, der kräftige Zweimetermann würde zu Boden fallen und hilflos liegen bleiben. Denn Ian Waterman spürt vom Nacken abwärts seinen Körper nicht. Er muss seine Bewegungen unablässig mit den Augen kontrollieren.
Dabei war dieser Hüne vor 30 Jahren noch ein Teenager wie jeder andere. Bis er als 19-Jähriger an einer heftigen Grippe erkrankte. Plötzlich konnte er seinen Körper nicht mehr vom Bett heben und fuchtelte unkoordiniert mit dem Arm herum, wenn er nach einem Buch greifen wollte. Eine Autoimmunreaktion hatte sämtliche Sinnesnerven aus Muskeln, Sehnen und Haut unterhalb seines Genicks vernichtet. Nervenbahnen, mit deren Hilfe das Gehirn Haltung und Bewegung wahrnimmt.
Bei Ian Waterman ist dieser Körpersinn seither unwiederbringlich zerstört. Ein Horrorzustand, doch gelähmt ist er nicht. Die motorischen Nerven, die den Muskeln ihre Kommandos geben, blieben intakt. So konnte er lernen, die Muskeln provisorisch über das Sehen zu kontrollieren.
Sehen, Hören, Riechen, Tasten, Schmecken – jeder kennt die fünf Sinne des Menschen. Der Körpersinn dagegen ist weitgehend unbekannt. Denn nur selten wird uns bewusst, mit welcher Macht er unser Leben regiert. Ohne den Körpersinn könnten wir weder geschmeidig gehen noch Fahrrad fahren, weder Sport treiben noch im Dunkeln hantieren. Und nicht nur unseren Körper erfühlt dieser sechste Sinn: Mit ihm spüren wir, wie der Sessel, auf dem wir sitzen, geformt ist. Wir können schätzen, wie viel noch in der Milchtüte ist, wenn wir sie bloß anheben und etwas schwenken.
Dieser Sinn informiert uns über Masseverteilung, Schwerpunkt und Balance, darüber, welche Wirkung welche Kräfte auf Bewegungen haben. Mit seiner Hilfe navigiert der Kellner ein überladenes Tablett über den Köpfen der Partygäste. Er lässt Werkzeuge wie Messer und Gabel, Hammer oder Schere, sogar das Auto zu Körperteilen werden. Einen Pinsel spüren wir bis in die Spitze.
Anders als beim Riechen oder Hören hat der Körpersinn kein spezifisches Organ. Wir nehmen den Körper und seine Haltung mit mehreren Teilsinnen wahr: Mit dem Tastgefühl und dem Gleichgewichtssinn, vor allem aber mit sogenannten Tiefensensoren in Muskeln, Sehnen und Gelenken. Diese winzigen Messstationen informieren unser Gehirn dauernd über Stellung, Spannkraft und Bewegung der Körperteile. In den Armen, im Rumpf und den Beinen dominieren sie den Körpersinn. Das Gefühl für die Hände – sie sind beim Menschen besonders hoch entwickelt – entsteht dagegen gleichermaßen aus Tiefen- und Tastsinn.
Eine wichtige Rolle für die Wahrnehmung des Körpers spielt zudem das Gedächtnis. Denn die Interpretationen von Tiefensinn und Tastgefühl müssen nach der Geburt erst erlernt werden. Wie fühlt es sich an, eine Tür zu öffnen? Viele Male muss ein Kind zugreifen. Doch wenn es genug Erfahrung gesammelt hat, sieht es einer Tür von weitem an, wie schwer- oder leichtgängig sie ist. Auch eine große Eisenkugel sieht aus der Entfernung schwer aus – weil wir mit Eisen schon früher einmal hantiert haben.
Dass ein so bedeutender Sinn bis vor etwa 100 Jahren übersehen wurde, ist schwer zu glauben. Doch nachdem Aristoteles in der Antike die fünf Sinne Sehen, Hören, Schmecken, Riechen und Tasten identifiziert hatte, blieb es mehr als 2000 Jahre lang dabei.
Der Körpersinn beeinflusste auch die Physik
Erst im frühen 19. Jahrhundert fragte sich der schottische Physiologe Charles Bell, wie Blinde es schaffen, so geschickt und zielgerichtet zu agieren. Er folgerte daraus, dass es einen Sinn für die Lage und Bewegung des Körpers geben müsse. Der Neurologe und Medizinnobelpreisträger Charles Sherrington zeigte schließlich zu Beginn des 20. Jahrhunderts, dass Muskeln und Sehnen vollgepackt sind mit Sinneszellen, die er "Propriozeptoren" nannte, also Rezeptoren zur Selbstwahrnehmung. Der so enthüllte Körpersinn heißt seither Propriozeption.
Dieses lebenslang geschulte Gefühl lehrt uns nicht nur, unsere Bewegung und die der Dinge zu verstehen. Auch die Anfänge der Physik waren unbewusst von Konzepten geprägt, die offensichtlich von körpersinnlichen Erfahrungen rührten. Etwa der Wurf: Noch im Mittelalter glaubten die Gelehrten, dass der Werfer aktiv einen "Impetus" erzeugt und auf das Wurfobjekt überträgt. Werfen wir einen Stein, fühlt sich das tatsächlich so an, als ob wir ihm einen Impuls mitgäben, der ihn durch die Luft trägt. Der über den Körpersinn vermittelte Eindruck, dass wir mit Hilfe solcher Impulse gezielt auf Dinge und Lebewesen einwirken können, ist vielleicht das Urbild unseres Konzeptes der "Kausalität", vielleicht gar die Wurzel der Unterscheidung von Ich und Welt.
Der Körpersinn spielt nicht nur eine entscheidende Rolle für unsere Fähigkeit, die mechanischen Eigenschaften der Dinge im Wortsinn zu begreifen. Auch das abstrakte Denken könnte seine Wurzel in körpersinnlichen Erfahrungen und Bewegungsintelligenz haben, vermuteten der Biologe Konrad Lorenz und der Entwicklungspsychologe Jean Piaget. Ebenso könnten Gefühle auf Körperwahrnehmungen beruhen, glaubt der amerikanische Neuropsychologe Antonio Damasio. Und der Anthropologe Daniel Povinelli von der University of Louisiana behauptet sogar, das menschliche Selbst-Bewusstsein habe sich im Zuge der Evolution zuerst als Körper-Bewusstheit entwickelt, das den Menschenaffen bis dahin unmögliche Kletterkünste erlaubte.
Wurde aus Körper-Bewusstheit Selbst-Bewusstheit?
Bei Feldstudien im Regenwald Sumatras war Povinelli und seinem Kollegen John Cant aufgefallen, dass kleinere Affen sich mit Hilfe weniger, stereotyper Bewegungsschemata durchs Geäst hangeln, Orang-Utans sich jedoch äußerst flexibel und erfindungsreich durch die Bäume schwingen. Povinelli und Cant vermuten, dass nur ein hoch entwickeltes Körperbewusstsein solche Bewegungskreativität ermöglicht.
Für große Tiere ist die Bewegung im Geäst anspruchsvoller als für kleine. Nicht nur, weil die Schwergewichte meist an mehreren Ästen gleichzeitig turnen müssen. Auch hängen die Äste unter ihrem Gewicht stark durch und schwanken, was das Kraxeln und das Wechseln zwischen Bäumen kniffliger macht. Große Affen kommen deshalb mit Bewegungsstereotypien nicht mehr aus. An deren Stelle tritt ein neues "psychologisches System", das Freiheit, Flexibilität und Bewegungsintelligenz stark vergrößert: das Bewusstsein für das körperliche Selbst.
Wir Menschen gehen trotzdem nicht nur mit Werkzeugen viel geschickter um als Affen. Gefühlsbetont tanzen wir zu schöner Musik. Und nach entsprechendem Training turnen viele von uns besser, als Menschenaffen es je könnten. Im Zuge der Evolution vom Großaffen zum Menschen hat sich der Körpersinn offenbar noch einmal sprunghaft entwickelt – und an die menschliche Lust gekoppelt, forschend und übend mit unseresgleichen und den Dingen umzugehen.
So stapeln Kinder Bauklötze und andere Gegenstände zu immer höheren Türmen. Indem sie mit Objekten hantieren, lernen sie viel über Massenverteilung, Schwerpunkt und Stabilität ihrer Bauwerke.
Ian Waterman muss permanent agieren wie ein Topathlet
Die Geduld der Menschenaffen ist da schneller am Ende. Povinelli glaubt, dass diese Tiere nur ein rudimentäres Gefühl für die mechanischen Eigenschaften von Gegenständen entwickeln, weil ihr Verständnis dafür noch vom Sehsinn geprägt ist. Deshalb hätten Affen von Masseverteilung und Schwerpunkt kaum eine Ahnung.
Menschen nutzen ihren Körpersinn viel intensiver als Affen, um die eigene Körpermechanik und die Physik der Dinge zu begreifen. Die Augen sind nur ein unvollständiger Ersatz. Das Schicksal Ian Watermans zeigt: Es bedarf jahrelangen harten Trainings, die mit dem Körpersinn verlorene Kontrolle wenigstens zum Teil zurückzugewinnen und mit Hilfe der Augen etwa einen Becher zu greifen. Die meisten körperblinden Menschen bleiben lebenslang ans Bett oder an den Rollstuhl gefesselt.
Dass Ian Waterman es geschafft hat, sogar wieder zu gehen, ist eine Ausnahme. Er verdankt das vor allem einem selbst erdachten kreativen Trainingsprogramm, seinem eisernen Erfolgswillen und Fleiß. Noch immer wirken selbst Alltagsbewegungen oft unbeholfen. Nichts ist automatisch, er muss jedes Detail seiner Aktionen planen. Wenn er sich bewegt oder auch nur sitzt, darf seine Konzentration keinen Augenblick nachlassen. Die ganz normalen Bewegungen eines Tages kosten ihn die Anstrengung eines Topathleten, wie er sagt.
Gesunde Menschen dagegen bemerken kaum, in welche Richtung und wie stark sie sich zurücklehnen, um im Gleichgewicht zu bleiben. Über das Körpergefühl geschieht das wie von selbst.
ich möchte einmal auf einen Artikel von Franz Mechsner und Victor Smetacek im SPON ( Spiegel Online )
aufmerksam machen, der mich total begeistern lässt.
Habe ich doch viele Jahre immer ähnliches vermutet, aber nie greifbar mittels Worte vermitteln können, jetzt bekommt eine jahrelange Idee ein Gesicht und das empfinde ich als phantastisch
Alle haben ihn, kaum jemand kennt ihn, doch ohne ihn würde der Mensch unbeholfen durch die Welt stolpern: der Körpersinn. Ist aus ihm vielleicht sogar das Selbst-Bewusstsein entstanden?
Ian Waterman geht schlurfend, breitbeinig, steif. Immer wieder bleibt er stehen, schaut an sich herunter, macht erneut ein paar Schritte, blickt abermals auf die Beine. Ginge jetzt das Licht aus, der kräftige Zweimetermann würde zu Boden fallen und hilflos liegen bleiben. Denn Ian Waterman spürt vom Nacken abwärts seinen Körper nicht. Er muss seine Bewegungen unablässig mit den Augen kontrollieren.
Dabei war dieser Hüne vor 30 Jahren noch ein Teenager wie jeder andere. Bis er als 19-Jähriger an einer heftigen Grippe erkrankte. Plötzlich konnte er seinen Körper nicht mehr vom Bett heben und fuchtelte unkoordiniert mit dem Arm herum, wenn er nach einem Buch greifen wollte. Eine Autoimmunreaktion hatte sämtliche Sinnesnerven aus Muskeln, Sehnen und Haut unterhalb seines Genicks vernichtet. Nervenbahnen, mit deren Hilfe das Gehirn Haltung und Bewegung wahrnimmt.
Bei Ian Waterman ist dieser Körpersinn seither unwiederbringlich zerstört. Ein Horrorzustand, doch gelähmt ist er nicht. Die motorischen Nerven, die den Muskeln ihre Kommandos geben, blieben intakt. So konnte er lernen, die Muskeln provisorisch über das Sehen zu kontrollieren.
Sehen, Hören, Riechen, Tasten, Schmecken – jeder kennt die fünf Sinne des Menschen. Der Körpersinn dagegen ist weitgehend unbekannt. Denn nur selten wird uns bewusst, mit welcher Macht er unser Leben regiert. Ohne den Körpersinn könnten wir weder geschmeidig gehen noch Fahrrad fahren, weder Sport treiben noch im Dunkeln hantieren. Und nicht nur unseren Körper erfühlt dieser sechste Sinn: Mit ihm spüren wir, wie der Sessel, auf dem wir sitzen, geformt ist. Wir können schätzen, wie viel noch in der Milchtüte ist, wenn wir sie bloß anheben und etwas schwenken.
Dieser Sinn informiert uns über Masseverteilung, Schwerpunkt und Balance, darüber, welche Wirkung welche Kräfte auf Bewegungen haben. Mit seiner Hilfe navigiert der Kellner ein überladenes Tablett über den Köpfen der Partygäste. Er lässt Werkzeuge wie Messer und Gabel, Hammer oder Schere, sogar das Auto zu Körperteilen werden. Einen Pinsel spüren wir bis in die Spitze.
Anders als beim Riechen oder Hören hat der Körpersinn kein spezifisches Organ. Wir nehmen den Körper und seine Haltung mit mehreren Teilsinnen wahr: Mit dem Tastgefühl und dem Gleichgewichtssinn, vor allem aber mit sogenannten Tiefensensoren in Muskeln, Sehnen und Gelenken. Diese winzigen Messstationen informieren unser Gehirn dauernd über Stellung, Spannkraft und Bewegung der Körperteile. In den Armen, im Rumpf und den Beinen dominieren sie den Körpersinn. Das Gefühl für die Hände – sie sind beim Menschen besonders hoch entwickelt – entsteht dagegen gleichermaßen aus Tiefen- und Tastsinn.
Eine wichtige Rolle für die Wahrnehmung des Körpers spielt zudem das Gedächtnis. Denn die Interpretationen von Tiefensinn und Tastgefühl müssen nach der Geburt erst erlernt werden. Wie fühlt es sich an, eine Tür zu öffnen? Viele Male muss ein Kind zugreifen. Doch wenn es genug Erfahrung gesammelt hat, sieht es einer Tür von weitem an, wie schwer- oder leichtgängig sie ist. Auch eine große Eisenkugel sieht aus der Entfernung schwer aus – weil wir mit Eisen schon früher einmal hantiert haben.
Dass ein so bedeutender Sinn bis vor etwa 100 Jahren übersehen wurde, ist schwer zu glauben. Doch nachdem Aristoteles in der Antike die fünf Sinne Sehen, Hören, Schmecken, Riechen und Tasten identifiziert hatte, blieb es mehr als 2000 Jahre lang dabei.
Der Körpersinn beeinflusste auch die Physik
Erst im frühen 19. Jahrhundert fragte sich der schottische Physiologe Charles Bell, wie Blinde es schaffen, so geschickt und zielgerichtet zu agieren. Er folgerte daraus, dass es einen Sinn für die Lage und Bewegung des Körpers geben müsse. Der Neurologe und Medizinnobelpreisträger Charles Sherrington zeigte schließlich zu Beginn des 20. Jahrhunderts, dass Muskeln und Sehnen vollgepackt sind mit Sinneszellen, die er "Propriozeptoren" nannte, also Rezeptoren zur Selbstwahrnehmung. Der so enthüllte Körpersinn heißt seither Propriozeption.
Dieses lebenslang geschulte Gefühl lehrt uns nicht nur, unsere Bewegung und die der Dinge zu verstehen. Auch die Anfänge der Physik waren unbewusst von Konzepten geprägt, die offensichtlich von körpersinnlichen Erfahrungen rührten. Etwa der Wurf: Noch im Mittelalter glaubten die Gelehrten, dass der Werfer aktiv einen "Impetus" erzeugt und auf das Wurfobjekt überträgt. Werfen wir einen Stein, fühlt sich das tatsächlich so an, als ob wir ihm einen Impuls mitgäben, der ihn durch die Luft trägt. Der über den Körpersinn vermittelte Eindruck, dass wir mit Hilfe solcher Impulse gezielt auf Dinge und Lebewesen einwirken können, ist vielleicht das Urbild unseres Konzeptes der "Kausalität", vielleicht gar die Wurzel der Unterscheidung von Ich und Welt.
Der Körpersinn spielt nicht nur eine entscheidende Rolle für unsere Fähigkeit, die mechanischen Eigenschaften der Dinge im Wortsinn zu begreifen. Auch das abstrakte Denken könnte seine Wurzel in körpersinnlichen Erfahrungen und Bewegungsintelligenz haben, vermuteten der Biologe Konrad Lorenz und der Entwicklungspsychologe Jean Piaget. Ebenso könnten Gefühle auf Körperwahrnehmungen beruhen, glaubt der amerikanische Neuropsychologe Antonio Damasio. Und der Anthropologe Daniel Povinelli von der University of Louisiana behauptet sogar, das menschliche Selbst-Bewusstsein habe sich im Zuge der Evolution zuerst als Körper-Bewusstheit entwickelt, das den Menschenaffen bis dahin unmögliche Kletterkünste erlaubte.
Wurde aus Körper-Bewusstheit Selbst-Bewusstheit?
Bei Feldstudien im Regenwald Sumatras war Povinelli und seinem Kollegen John Cant aufgefallen, dass kleinere Affen sich mit Hilfe weniger, stereotyper Bewegungsschemata durchs Geäst hangeln, Orang-Utans sich jedoch äußerst flexibel und erfindungsreich durch die Bäume schwingen. Povinelli und Cant vermuten, dass nur ein hoch entwickeltes Körperbewusstsein solche Bewegungskreativität ermöglicht.
Für große Tiere ist die Bewegung im Geäst anspruchsvoller als für kleine. Nicht nur, weil die Schwergewichte meist an mehreren Ästen gleichzeitig turnen müssen. Auch hängen die Äste unter ihrem Gewicht stark durch und schwanken, was das Kraxeln und das Wechseln zwischen Bäumen kniffliger macht. Große Affen kommen deshalb mit Bewegungsstereotypien nicht mehr aus. An deren Stelle tritt ein neues "psychologisches System", das Freiheit, Flexibilität und Bewegungsintelligenz stark vergrößert: das Bewusstsein für das körperliche Selbst.
Wir Menschen gehen trotzdem nicht nur mit Werkzeugen viel geschickter um als Affen. Gefühlsbetont tanzen wir zu schöner Musik. Und nach entsprechendem Training turnen viele von uns besser, als Menschenaffen es je könnten. Im Zuge der Evolution vom Großaffen zum Menschen hat sich der Körpersinn offenbar noch einmal sprunghaft entwickelt – und an die menschliche Lust gekoppelt, forschend und übend mit unseresgleichen und den Dingen umzugehen.
So stapeln Kinder Bauklötze und andere Gegenstände zu immer höheren Türmen. Indem sie mit Objekten hantieren, lernen sie viel über Massenverteilung, Schwerpunkt und Stabilität ihrer Bauwerke.
Ian Waterman muss permanent agieren wie ein Topathlet
Die Geduld der Menschenaffen ist da schneller am Ende. Povinelli glaubt, dass diese Tiere nur ein rudimentäres Gefühl für die mechanischen Eigenschaften von Gegenständen entwickeln, weil ihr Verständnis dafür noch vom Sehsinn geprägt ist. Deshalb hätten Affen von Masseverteilung und Schwerpunkt kaum eine Ahnung.
Menschen nutzen ihren Körpersinn viel intensiver als Affen, um die eigene Körpermechanik und die Physik der Dinge zu begreifen. Die Augen sind nur ein unvollständiger Ersatz. Das Schicksal Ian Watermans zeigt: Es bedarf jahrelangen harten Trainings, die mit dem Körpersinn verlorene Kontrolle wenigstens zum Teil zurückzugewinnen und mit Hilfe der Augen etwa einen Becher zu greifen. Die meisten körperblinden Menschen bleiben lebenslang ans Bett oder an den Rollstuhl gefesselt.
Dass Ian Waterman es geschafft hat, sogar wieder zu gehen, ist eine Ausnahme. Er verdankt das vor allem einem selbst erdachten kreativen Trainingsprogramm, seinem eisernen Erfolgswillen und Fleiß. Noch immer wirken selbst Alltagsbewegungen oft unbeholfen. Nichts ist automatisch, er muss jedes Detail seiner Aktionen planen. Wenn er sich bewegt oder auch nur sitzt, darf seine Konzentration keinen Augenblick nachlassen. Die ganz normalen Bewegungen eines Tages kosten ihn die Anstrengung eines Topathleten, wie er sagt.
Gesunde Menschen dagegen bemerken kaum, in welche Richtung und wie stark sie sich zurücklehnen, um im Gleichgewicht zu bleiben. Über das Körpergefühl geschieht das wie von selbst.